Blog: Höher, schneller, weiter – Wenn der Sport zur Sucht wird

Im April 2014 folgte ein weiterer Beitrag für den studentischen Blog Medienblick. Thema diesmal: Sportsucht.

Körperliche Aktivität kombiniert mit ausgewogener Ernährung, zwei Litern Wasser am Tag und frischer Luft gilt als die Formel für ein gesundes und langes Leben. Doch was passiert, wenn zu viel Sport die Variablen aus dem Gleichgewicht bringt? Bedeutet mehr Sport zwingend eine Steigerung des Wohlbefindens? Tatsächlich kann der Wunsch nach Fitness und Schönheit auch Schatten werfen.

Bauch einer Frau
Green Heat/flickr unter CC BY-NC-ND 2.0

Die moderne Medizin macht immer größere Fortschritte. Krankheiten, die früher als unheilbar galten, verweist sie in ihre Schranken. Während sich die Behandlungsmöglichkeiten für körperliche Beschwerden in den letzten Jahrzehnten also stetig verbessert haben, ist die Zahl an psychischen Krankheitsbildern jedoch angestiegen. Viele von ihnen stehen in direktem Zusammenhang mit den Lebensgewohnheiten moderner Industrienationen.

Eine relativ neue Form dieser sogenannten Zivilisationskrankheiten stellen die Verhaltenssüchte dar. Von einer Verhaltenssucht spricht man, wenn eine bestimmte Handlungsweise eine extreme Ausprägung annimmt, das heißt zunehmend übertrieben ausgeübt wird. Entscheidend ist, dass diese Abhängigkeit, anders als beim klassischen Verständnis einer Sucht, ohne bewusstseinsverändernde Stoffe entsteht. Aktuelle Beispiele hierfür sind Spiel-, Computer- oder Sportsucht.

Zu viel Sport?

Besonders der Gedanke, zu viel Sport könnte irgendwann schädlich für den Körper werden, mag absurd erscheinen. Die Grenze zwischen gesundem und gestörtem Sportverhalten ist nicht einfach zu ziehen. Die Alarmglocken sollten allerdings läuten, sobald bei einer Person ein permanentes Verlangen Sport zu treiben einsetzt und zunehmend alle anderen Lebensbereiche und Interessen dominiert. Die körperliche Verausgabung wird zum wichtigsten Lebensinhalt, soziale Kontakte werden vernachlässigt. Gleichzeitig steigt die persönliche Verletzungsgefahr, da Betroffene ihre Körper auf lange Sicht hin überlasten. Ist der oder die Sportsüchtige nicht aktiv, kommt es zu Entzugserscheinungen wie innerer Unruhe, Anspannung, Depressionen, Aggressionen oder Ängsten.

Neuesten wissenschaftlichen Studien zufolge löst das Glückshormon Dopamin diese Abhängigkeitserscheinungen aus. Dopamin allein kann allerdings nicht als Ursache der Sportsucht betrachtet werden, auch das Entspannungsgefühl im Anschluss an die körperliche Aktivität trägt zu der Abhängigkeit bei. Darüber hinaus leiden Betroffene häufig unter einem geringen Selbstbewusstsein. Mit dem Sport verfügen sie über ein Mittel es zu steigern; er gibt ihnen das Gefühl, etwas vollbracht zu haben. Der wohl häufigste Auslöser einer Sportabhängigkeit ist jedoch Realitätsflucht. Viele Betroffene haben belastende Erfahrungen gemacht und versuchen sich durch den Sport von ihren Alltagsproblemen abzulenken.

Der Wunsch nach dem perfekten Körper

Eine Frau joggt über einen ZebrastreifenBesonders gefährlich wird es, wenn zusätzlich zur Sportsucht eine Essstörung vorliegt. Diese Kombination ist keine Seltenheit, sondern ein regelmäßig auftretender Spezialfall der Sportsucht, gerade in Sportarten, in denen die äußere Erscheinung extrem wichtig ist. Das ist zum Beispiel im Ballett der Fall. De Ausspruch „Sport ist Mord“ erstrahlt hier in völlig neuem Licht. In Fachkreisen spricht man daher auch von Anorexia Athletica (Sportmagersucht) oder Exercise Bulimia (Sportbulimie). Das wohl berühmteste Beispiel für Sportbulimie verkörpert Natalie Portman im Film Black Swan

Bei der Sportmagersucht trifft exzessive körperliche Aktivität auf eine zu niedrige Kalorienzufuhr, während sich Sportbulimie durch eine normale Nahrungsaufnahme auszeichnet. Dem Essen wird sich später aber durch Erbrechen wieder entledigt. Sowohl bei Anorexia Athletica, als auch Exercise Bulimia trägt der oder die Betroffene willentlich dazu bei, nicht zuzunehmen oder sogar abzunehmen. Dies kann Osteoporose, Muskelabbau und eine verminderte körperliche Leistungsfähigkeit zur Folge haben, bei Frauen bleibt zudem die Periode aus.

So weit ist es bei Lena, die eigentlich anders heißt, nicht gekommen. Sie ist 20, Studentin und kämpft auch heute noch manchmal gegen die Sportmagersucht an: „Essen und Nicht-Essen-Dürfen bestimmen zu einem gewissen Grad immer noch mein Leben.“ Dabei begann die Krankheit bei Lena eher schleichend. Sie machte Sport, um fit zu sein, und hatte viel Freizeit, so dass sie bis zu fünf Mal die Woche joggen ging. Innerhalb weniger Monate nahm sie fünf Kilo ab. Realisiert hat sie dies kaum: „Ich würde die Gewichtsabnahme eher als Randerscheinung bezeichnen, zumindest anfänglich. Mit den Wochen und Monaten wurde der Sport dann Mittel zum Nicht-Zunehmen.“

„Ich konnte nur noch beruhigt essen, wenn ich gerade Sport getrieben hatte.“

Unbemerkt geriet sie immer mehr in einen Teufelskreis. Machte Sport, aß weniger Kohlenhydrate. Nahm weiter ab. Kohlenhydrate wurden mehr und mehr zu ihren Feinden. Das schlechte Gewissen bei den Mahlzeiten blieb nur aus, wenn Lena das Gefühl hatte, sich ausreichend bewegt zu haben. Schließlich gestand ihr bester Freund ihr, was viele andere nur im Stillen dachten: Dass er sich Sorgen um sie machte und sie professionelle Hilfe bräuchte. Lena suchte sich daraufhin eine Beratungsstelle. Diagnose: Sportmagersucht.

Eine Frau legt sich ein Maßband um die HüfteSie selbst hatte bis dahin noch nicht einmal gewusst, dass diese Erkrankung existiert. Als Auslöser wurden ihre schwierige Familiensituation und die Scheidung ihrer Eltern identifiziert. Lena war schon immer klar, dass die Trennung ihrer Eltern schwer für sie gewesen war – aber Sport ein Mittel, dieses Erlebnis zu kompensieren? Belächelt wurde sie wegen ihrer Krankheit nie. Für andere war und ist diese jedoch schwer zu verstehen, da sie sich im Grunde nur in Lenas Kopf abspielt.

Insgesamt stieß sie  jedoch überall auf große Hilfsbereitschaft und Neugier. So wie sie selbst, hatten auch die meisten Leute in ihrem Umfeld von der psychischen Störung noch nie etwas gehört. Lenas Fall zeigt nicht nur, wie wichtig es ist, Familie und Freunde zu haben, die einen unterstützen und ehrlich mit einem sind. Er verdeutlicht auch, dass ein Aspekt der Krankheit stärker ausgeprägt sein und den anderen dominieren kann. Genauso kann sich dieses Verhältnis im Laufe der Zeit umkehren.

Medizinisch nicht offiziell anerkannt

Verhaltenssüchte wie Sportsucht und ihre Kombinationsformen sind zurzeit nicht als Krankheiten anerkannt. Denn eine „echte“ Sucht setzt eine stoffgebundene Abhängigkeit voraus. Verbindliche Richtlinien, was in der modernen Medizin als eigenständige Erkrankung gilt und was nicht, finden sich im ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) und dem DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders).

In den USA wird Sportsucht schon länger untersucht, in Deutschland gibt es zu ihr bislang wenig Forschung. Die Anzahl der Sportsüchtigen hierzulande wird auf einen Prozent geschätzt. Womöglich ist es aber dennoch an der Zeit, dass Sportsucht, -magersucht und -bulimie, sowie andere Verhaltenssüchte in die medizinischen Diagnosesysteme ICD-10 und DSN-IV Aufnahme finden. Schließlich sind auch Essstörungen in diesen gängigen Verzeichnissen erwähnt, obwohl sie teilweise ebenfalls den Verhaltensabhängigkeiten zugeordnet werden.

Die Wahrnehmung für noch relativ unbekannte psychische Störungen könnte hierdurch geschärft werden. Speziell ein Phänomen wie Sportsucht muss man in einer Welt, in der das Idealbild vom männlichen und weiblichen Körper omnipräsent ist, diskutieren. Generell gilt natürlich: Egal wonach eine Person süchtig ist, sei es noch so etwas in der Regel Wohltuendes wie Sport – zu viel des Guten ist ungesund. Oder wie schon der antike Philosoph Epiktet wusste: „Überschreitet man das Maß, so wird das Angenehme zum Unangenehmen.“

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